The Britannic Organ - Volume III

Deutsche Fassung (auf die Fahne klicken für Englisch oder Französisch)

  

MUSIK AUF HOHER SEE

Orgeln an Bord von Schiffen

In seinem Roman "Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer" von 1869/70 erzählt Jules Vernes von einem gewissen Kapitän Nemo, der an Bord seines Schiffes Nautilus auf einer dort vorhandenen Orgel spielt. Doch bis aus Vernes Fiktion Realität wurde, verging noch etwas Zeit. Zunächst reisten Harmonien und Flügel an Bord von Segelschiffen wie der Campania und der Lucania (beide von 1893) der Cunard Line mit. Die Campania verfügte sogar über Pfeifenattrappen, damit ihr Harmonium wie eine Pfeifenorgel aussah - ein nicht unüblicher Trick.

Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entstand eine ernsthafte Konkurrenz um die beste musikalische Unterhaltung an Bord, und die großen Luxusliner des frühen 20. Jahrhunderts wurden mit dem Neuesten und Besten ausgestattet, das der Markt zu bieten hatte. Pianolas waren relativ weit verbreitet. Nach dem Untergang der Titanic diente die Bereitstellung solcher Instrumente auch der Ablenkung. Im Katalog von 1913/14 zeigte und beschrieb Welte eine ganze Reihe von Klavier- und Orgelinstallationen an Bord von Yachten und Schiffen, darunter das Welte-Mignon, Orchestrien und die Philharmonie. Die New Yorker Niederlassung hatte auch auf der Pocahontas, einem amerikanischen Flussschiff, ein Orchestrion aufgestellt. Alle Instrumente, die den Titel „Titanic-Orgel" für sich beanspruchen, sind eigentlich Orchestrien. Da diese überlebten, erhielt das Gerücht, dass eine Orgel zu spät geliefert wurde, um an Bord gebracht werden zu können, eine gewisse Grundlage.

Die größte Orgel, die je für ein Schiff gebaut wurde, ist die heute im Seewener Museum aufgestellte Britannic-Orgel, eine Welte-Philharmonie, die für das Schwesterschiff der Titanic gedacht war, sich jedoch nie an Bord dieses Schiffes befand. Über einige andere existieren Aufzeichnungen, z.B. auf Schiffen der White Star Line, von Lloyds oder auf Privatyachten wie der Dampfyacht Niagara von Howard Gould, auf der es eine Philharmonie gab. Auch die Aeolian Company befasste sich mit Schiffsorgeln. Ursprünglich sollte die Britannic ein Instrument von Aeolian erhalten. Doch wie bei der Philharmonie für die Titanic kam es nicht dazu.

Aspekte der maritimen Kultur

Einige besondere Bereiche der menschlichen Kreativität widmen sich unserem fortwährenden Kampf mit den vier Elementen - Wasser, Luft, Feuer, Erde. Dies wurde in zahlreichen Werken der Literatur, Malerei, Bildhauerei, Fotografie und Musik thematisiert. Auf gewisse Weise verbanden die großen Dampfschiffe des frühen 20. Jahrhunderts alle vier Elemente miteinander. Gleichzeitig wurde die westliche Welt im Laufe des 19. und bis ins 20. Jahrhundert hinein von einer neuen kulturellen Ästhetik in Form einer „dynamischen" Romantik ergriffen. Maler, Dichter, Schriftsteller und Komponisten erzählten in Kunstwerken verschiedenster Art dramatische Geschichten von Seefahrern, Entdeckern, Abenteurern und Helden. Sie schufen einen Zeitgeist, der in der Darstellung von Themen wie Eroberung, Umbruch, Sehnsucht und Streben besonders klar zum Ausdruck kam. Auch eine intensive Beschäftigung mit dem Tod ist zu beobachten, ganz besonders in der Musik, mit der Verbreitung von Requiems in der Zeit von Berlioz, Fauré und Brahms. Die Schauerromantik wurde wiederbelebt und mit Rittern, Kriegern, Drachen und geretteten Jungfern zu einem beliebten Thema in Romanen. Die sogenannte Gothic-Kultur des 19. Jahrhunderts war düster und schwermütig. In der Literatur zählten Ruskin, Dickens und Conan Doyle zu ihren bedeutendsten Vertretern. Gleichzeitig war, ausgehend von der „Sturm"-Thematik in der Orgel- und Orchestermusik und der Geschichte der Titanic, der Gedanke von Rettung, sowohl physischer als auch religiöser Natur, ein zentrales Thema. Menschliche Not, die Angst vor den Naturgewalten und zugleich eine nie versiegende Faszination waren in ihrer Gesamtheit Inspiration für unzählige Geschichten von waghalsigen Taten, und bedeutende Kunstwerke wurden dem Menschen im Kampf mit den Elementen gewidmet. Sowohl Wind, ob warm oder kalt, still oder stürmisch, als auch Wasser, in Form von Eis oder Dampf, bargen besondere Gefahren, deren zuweilen unbezwingbare Kräfte zu unausweichlichen Katastrophen, darunter insbesondere zu Schiffbruch, führten.

Wenn nichts anderes mehr half, wurde Gott angerufen. Doch die Kraft des Windes und der Tiere mussten in dieser neuen Ära noch größeren Urkräften weichen - Feuer und Dampf, die sich der erfindungsreiche Mensch zunutze machte, um seinen eigenen Komfort und seine Sicherheit zu verbessern, gerade auf See.

Diese CDs enthalten Musik, die zu diesem Zeitgeist passt mit seinen Veränderungen in der Mentalität, Technik und Mobilität. Sie befassen sich mit den Reaktionen des Menschen auf alle Formen der wiederkehrenden, unvorhersehbaren Anflüge von Feindseligkeit des Planeten gegenüber seinen Bewohnern, insbesondere mit jenen in Form von Wind und Wellen. Die Geschichten der Titanic und der Britannic stehen sinnbildlich für das prometheische Ringen zwischen der unbändigen Gefahr für den Menschen und dem Schwelgen in Komfort, manchmal gar in purem Luxus, beim Reisen zwischen den Kontinenten.

Eine Orgel an Bord eines Schiffes dient einzig und allein der Unterhaltung und ist in keiner Weise für die Navigation oder Sicherheit von Nutzen. Sie bietet Zerstreuung und hilft, von den Ängsten und Gespenstern, die finstere, gefährliche Ozeane oder tückische, felsige Küsten wecken, abzulenken. Eine Schiffsorgel zeugte außerdem von Macht, Prestige und Reichtum, wenn die Passagiere in den Räumen an Bord, die mithilfe der durch Dampf erzeugten Elektrizität strahlend hell erleuchtet wurden, ihrer Musik lauschten oder sogar dazu tanzten, während draußen in kalten, trüben Gewässern Eisberge und andere Gefahren lauerten. Geistliche Musik wurde gewählt, wenn göttlicher Beistand vonnöten war, insbesondere wenn Situationen als bedrohlich empfunden wurden oder die schlimmsten Befürchtungen sich tatsächlich bewahrheiteten.

Folglich enthalten diese CDs eine Mischung aus fröhlicher und getragener Musik, Liedern, Tänzen und Unterhaltungsmusik, die sich um Leben und Tod an Bord eines Schiffes drehen. Es wird angenommen, dass die Britannic, wäre sie nicht dem Krieg zum Opfer gefallen, noch bis in die 1930er Jahre in Betrieb gewesen wäre. Daher finden sich in der Auswahl klassische Musik, leichtere Stücke, Tanzmusik sowie Lieder aus dem Kino und der Seefahrt. Es sind also sämtliche Geschmäcker und Varianten vertreten, die möglicherweise an Bord der Britannic gespielt und gehört hätten werden können, wäre sie jemals als Passagierdampfer in See gestochen.

CD 1

Kapitän Nemos Musik

Johann Sebastian Bach (1685-1750)

Organist: David Rumsey

Track 1 Toccata und Fuge in d-Moll (BWV 565)

Dieses Stück bedarf keiner Vorstellung, Bachs berühmtestes, und vermutlich auch das weltweit bekannteste, Orgelwerk. Obwohl es so deutlich von Bachs üblichem Stil abweicht, dass seine Urheberschaft angezweifelt wurde. Nichtsdestotrotz muss es auf jeder CD mit Schiffsorgelmusik an erster Stelle stehen, allein schon deshalb, weil es untrennbar mit der Orgel an Bord von Kapitän Nemos Schiff Nautilus verbunden ist. Die Musik bewegt sich ausgehend von der Blitz-und-Donner-Metaphorik der eröffnenden Toccata über die außergewöhnliche Fuge, deren Thema manche als von der Violine abgeleitet beschreiben, mit den einzigartigen Echopassagen wieder zurück zu dem anfänglichen Gewitter. Dank einer scheinbar symbiotischen Beziehung erlangt dieses dramatische Werk, das aufgrund seiner Popularität ausgewählt wurde, durch die beständige Verwendung in den filmischen Adaptionen von Vernes Roman sogar noch größere Bekanntheit.

Titanic-Kultur

Nearer, my God, to Thee (Näher, mein Gott, zu dir) - Text von Sarah Fuller Flower Adams (1805-48). Drei der zahlreichen Melodien, mit denen dieses Gedicht vertont wurde, hier mit ihren Titeln entsprechend der gebräuchlichen britischen Ableitungen:

Lowell Mason (1792-1872)

Track 2 Bethany - die traditionelle amerikanische Melodie (1 Strophe)

Arthur S. Sullivan (1842-1900)

Track 3 Propior Deo - eine in England häufig verwendete Melodie (1 Strophe)

John Bacchus Dykes (1823-1876)

Track 4 Horbury - die weltweit am meisten verbreitete Melodie zur Zeit des Untergangs der Titanic und die, auf der das folgende Werk von Bonnet beruht (1 Strophe)

Organist Tracks 2-4: David Rumsey

Im Jahr 1904, lange vor dem Untergang der Titanic, soll dieses Kirchenlied von Frauen auf einem Rettungsboot gesungen worden sein, die vor der Küste Kanadas dem Wrack der Valencia entkommen waren. Welche Melodie sie dabei sangen, ist nicht überliefert. Es wird angenommen, dass die Darstellung dieses Ereignisses der Ursprung der Titanic-Geschichte ist oder sogar damit verwechselt wurde. Verschiedene Komponisten haben verschiedene dieser Melodien in musikalischen Werken verwendet, die sich mit der Titanic befassen.

Ob keines, nur ein einziges oder mehrere Kirchenlieder von der Kapelle der Titanic gespielt wurden, ist nicht sicher. Sollte dies jedoch der Fall gewesen sein, dann ist es nicht nur wahrscheinlich, dass es sich dabei um Horbury handelte, wie in dem Werk von Bonnet, das als nächster Track auf dieser CD zu hören ist; es ist nahezu gewiss. Die Filmindustrie beschränkte sich auf lediglich zwei Fassungen: Die Amerikaner bevorzugten eher ihre eigene Melodie (Bethany), ebenso wie die Briten die ihrige (Horbury). Folglich hat möglicherweise allein die schiere Größe Hollywoods dafür gesorgt, dass für das breite Publikum die falsche Melodie mit dieser Geschichte verknüpft ist.

Joseph Bonnet (1884-1944)

Organist: Joseph Bonnet

Track 5 In Memoriam Titanic (To the Memory of Titanic's Heroes; Zum Gedenken an die Helden der Titanic) Welte-Rolle 1611 (Master)

Im ersten bedeutenden Werk zum Gedenken an den Untergang der Titanic wird die Melodie Horbury verwendet. Es ist interessant, dass Bonnet sich hierfür entschied. Er musste wohl selbst erst recherchieren, welche Melodie tatsächlich gespielt wurde, da zu diesem Zeitpunkt bereits mehrere Varianten zusammen mit dem Text verwendet wurden. Es gibt keine Hinweise darauf, dass die britische Hymnenkultur für Bonnets Erziehung oder seinen religiösen Hintergrund eine Rolle spielte. In Memoriam Titanic wurde unmittelbar nach der Katastrophe am 12. April 1912 verfasst und von dem Komponisten am oder kurz nach dem 6. Februar 1913 in den Räumlichkeiten von Welte in Freiburg aufgenommen.

Es handelt sich hierbei um die einzige Aufnahme des Stücks, die vom Komponisten selbst eingespielt wurde. Es entfaltet sich wie ein griechisches Drama, voller Ernst und Symbolik, und ist auf seine ganz eigene Weise durchaus mit einem Requiem zu vergleichen. Die beinahe durchgängige Verwendung des Tremulants verstärkt den Eindruck des griechischen Pathos. Von Trauer getragene, auf Registern wie etwa der eindringlichen Klarinette gespielte Soli und „klassische" rezitativ-ähnliche Passagen tragen zu dieser Stimmung einer antiken Tragödie bei. Auch das Moll-Ende eines Stücks, das in der entsprechenden Dur-Tonart beginnt, unterstreicht dies wirkungsvoll.

Auf und unter dem Wasser

Claude Debussy (1862-1918)

dem Organisten Bernard ten Cate (1879 bis nach 1930) zugeschrieben

Track 6 La Cathédrale engloutie (Die versunkene Kathedrale) Welte-Rolle 1995 (Master)

Eine herrlich romantische Fantasie (oder doch mehr?) verbirgt sich hinter der Geschichte der verlorenen Stadt Atlantis. In diesem Zusammenhang entstanden Bilder versunkener Gebäude und Straßen, von Häusern und sogar einer Kathedrale unter dem Meer. Debussys atmosphärisches Werk, ursprünglich komponiert für Klavier, verwendet Elemente mittelalterlicher Musik, um durch Klänge Bilder einer längst vergangenen Epoche entstehen zu lassen.

Es ist nicht ganz klar, ob ten Cate dies zunächst als Klavierstück auf einer Rolle aufnahm und danach für die Orgel überarbeitete. Übertragungen von Klavierrollen auf die Orgel waren in den Anfangstagen der Welte-Philharmonie üblich, zu der Zeit, als ten Cate sich in Freiburg aufhielt, etwa 1924-1929, jedoch eher die Ausnahme. Das hier zu hörende Endergebnis wurde mit einer solchen Präzision erstellt, dass es sich dabei um eine „gezeichnete Rolle" (bei der die Noten mit dem Bleistift eingezeichnet wurden, bevor die Rolle zum Stanzen und zur umfangreichen Vervielfältigung an den Perforator weitergegeben wurde) zu handeln scheint. In jedem Fall wurde dieses Arrangement an die Fähigkeiten der Welte-Philharmonie angepasst. Die Verwendung des Harfenregisters (Glocken) verleiht dieser Darbietung auf der Philharmonie etwas von dem Geist seines Ursprungs als Klavierstück. Die Rolle wurde 1925-26 veröffentlicht.

Frédéric François Chopin (1810-1849)

Organist: Marco Enrico Bossi (1861-1925)

Track 7 Trauermarsch (aus der Klaviersonate op. 35 in b-Moll) Welte-Rolle 1006 (Master)

Bossi war der erste international anerkannte Organist, der Aufnahmen für Welte einspielte, und der einzige Italiener. Der Kontakt kam wahrscheinlich im November 1911 über den Auftritt des Unternehmens bei der Weltausstellung in Turin zustande. Bossis Sohn, ein in Deutschland ausgebildeter Organist, dirigierte dort am 31. Oktober ein Orchesterkonzert mit seinem Vater als Solisten. Es war der letzte Tag der Ausstellung, bei der die Philharmonie vorgestellt wurde. Die meisten von Bossis Rollen wurden zwischen 1912 und 1914 veröffentlicht, jeweils eine weitere folgte 1921, 1922 und 1925. Es ist möglich, dass die letzte im Gedenken an ihn veröffentlicht wurde.

Es ist auf kuriose Weise passend, dass Bossi eine Orgelbearbeitung von Chopins berühmtem Trauermarsch aufnahm, die hier in einer CD-Box mit Schiffsmusik vertreten ist, denn er starb bei einer Atlantiküberquerung und wurde zur See bestattet (20. Februar 1925). Sein Tod war krankheitsbedingt und ging nicht auf einen Unglücksfall zurück. Dennoch erinnert er uns daran, dass auf Schiffsreisen häufig Gesundheitsprobleme, die über die Seekrankheit hinausgingen, oder sogar der Tod auf hoher See eine Rolle spielten. Zur damaligen Zeit bedeuteten Konzerttourneen für viele Organisten (wie z.B. auch Guilmant, Best, Eddy, Lemare) Reisen mit dem Ozeandampfer, nicht mit dem Flugzeug, und eine gute körperliche Verfassung war damals wie heute wichtig für das Reisen von Kontinent zu Kontinent. Hätte die Titanic tatsächlich über eine Philharmonie verfügt, wie möglicherweise vorgesehen, oder wäre die Britannic jemals mit Passagieren ausgelaufen und nicht nur mit Soldaten, dann hätten diese Organisten durchaus an Bord spielen können. Die Originalaufnahme entstand am 18. Juli 1912 oder kurze Zeit später.

Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847)

Organist: Harry Goss-Custard (1871-1964)

Track 8 Meeresstille und glückliche Fahrt Welte-Rolle 1476 (Master)

Diese Transkription eines Orchesterwerks erinnert uns nicht nur an den Wunsch nach ruhiger See sondern außerdem daran, dass Seereisen auch Handel und Gewerbe dienten und daher für Wohlstand sorgen konnten. Mendelssohns Werk basierte auf dem gleichnamigen Gedicht Johann Wolfgang von Goethes (1749-1832) und wurde 1832 uraufgeführt. Eine Kantate von Beethoven beruht ebenfalls auf diesem Gedicht. Auch wenn der Ingenieur James Rumsey (1743-1792) in den USA bereits seine Experimente durchführte, war die Ära der Dampfschifffahrt noch nicht angebrochen, und mit einem Windjammer in eine Flaute zu geraten war beinahe so schlimm wie jedes andere Unglück. Die Welte-Rolle wurde vermutlich bereits am 20. Februar 1913 aufgenommen, aber erst 1927 veröffentlicht.

Franz Schubert (1797-1828)

Organist: Franz Philipp (1890-1972)

Track 9 Meeresstille Welte-Rolle 512 (Master)

Schon immer war für die meisten Reisenden eine ruhige Seefahrt eine wünschenswerte Vorstellung, mit Ausnahme einiger weniger „Schlechtwetter-Segler", die wie Kletterer in den Schweizer Bergen und ähnliche Abenteuerlustige stets auf der Suche nach Gefahr und dem gewissen „Kick" sind. Im 19. Jahrhundert, als die Schiffe, ebenfalls Windjammer, noch nicht über ausreichende Stabilisatoren verfügten, konnte es passieren, dass sie auf quälend wogender See in eine Flaute gerieten oder sich durch vom Wind aufgepeitschte Wellenberge und -täler kämpfen mussten. Auf diese Weise konnte eine Seereise zu einem Tage oder sogar Wochen andauernden Alptraum werden, bei dem es kein Vorwärtskommen gab, dafür aber schwere Seekrankheit, ganz zu schweigen von der Angst, möglicherweise nicht zu überleben. Diese Epoche fand Wege, dies in ihren Kunstwerken, auch musikalischer Art, zum Ausdruck zu bringen - auch durch das Komponieren von Musik, einer Beschwörungsformel gleich, die einem Gebet für Erlösung entsprach, so wie diese kurze Bearbeitung. Die ursprüngliche Aufnahme datiert vermutlich von ca. 1921-22, womöglich jedoch bereits von 1912.

Richard Wagner (1813-1883)

Handgezeichnete Rolle von Franz Xaver Franz

Track 10 Auswahl aus Der fliegende Holländer Welte-Rolle 645 (Master)

Hierbei handelt es sich um eines der großen archetypischen musikalischen Symbole Wagners, eines Meisters seines Fachs, der eine ganze Oper über den ewig wogenden Ozean und einen ebenso rastlosen Seemann schrieb. Die Transkription dieses Stücks auf einer gestanzten Rolle wurde von Franz Xaver Franz angefertigt, dem bei Welte angestellten Freiburger Orchestermusiker, der sich nicht nur mit diesem Repertoire auskannte und wusste, wie man es spielt, sondern es auch so mit Bleistift auf eine Papierrolle bringen konnte, dass es wie eine vollkommen überzeugende „Live-"Aufführung klang. Nachdem er dies getan hatte, wurden Löcher in das Papier gestanzt, das, nach der Vervielfältigung, bei der Wiedergabe pneumatische Mechanismen betätigte und Noten spielte, Register wechselte und all die nötigen musikalischen Nuancen erzeugte, wie z.B. Crescendi und Diminuendi. Franz beherrschte dieses ungewöhnliche Handwerk auf herausragende Weise. Es bedurfte unendlicher Geduld und Detailverliebtheit, jedoch vor allem unmittelbarer Kenntnis des musikalischen Stils und seiner jeweiligen Paradigmen. Die Originalaufnahme wurde 1921 erstmals veröffentlicht.

Unterhaltung an Bord

Im späten 19. Jahrhundert führten die großen Passagierschifffahrtsunternehmen einen immer heftigeren Konkurrenzkampf um die Gunst ihrer Kunden. Dampf statt Segel und ein guter Sicherheitsstandard waren dafür ein guter Anfang. Darüber hinaus erforderten Tage oder gar Wochen ohne Unterbrechung an Bord eines Schiffs die Versorgung mit Lebensmitteln, aber auch Komfort und Unterhaltung für die Passagiere. Diese Ausstattung reichte von eher spartanisch bis hin zu, für die Reisenden der ersten Klasse, verschwenderisch. Je teurer die Fahrkarte, desto gediegener wurde gespeist, sogar am Tisch des Kapitäns, und umso mehr Komfort, Unterhaltung und Privilegien (einschließlich der Rettung, sofern die Titanic als Maßstab dienen kann) wurden geboten. Musik stellte dabei eine der wichtigsten Zerstreuungen dar, mit Flügeln, Klavieren, Pianolas, Harmonien, Orchestrien und sogar Kapellen oder kleinen Orchestern. Das Vorhandensein einer Philharmonie galt als das Beste, was an Prestige und Unterhaltungswert zu haben war, und zumindest auf der Britannic sollte sie in der ersten Klasse direkt gegenüber der großen Treppe aufgestellt werden. Diese war selbst mit reichen Schnitzereien und Dekorationen verziert und auf allen drei Schiffen der White Star Line, der Olympic, der Titanic und der Britannic nahezu identisch.

Die große Treppe in der ersten Klasse auf der Olympic

Zum Vergnügen der Passagiere der ersten Klasse

Théodore Dubois (1837-1924)

Organist: David Rumsey

Track 1 Toccata in g-Dur

Die Generation der mit dem Schiff reisenden Orgelvirtuosen spielte Musik aller Art, geistliche und weltliche Musik, einschließlich Bearbeitungen populärer Klassiker, Opernauszüge und Klaviermusik. Einige von ihnen improvisierten auch. Im Mittelpunkt des Unterhaltungsgenres stand damals zwar nach wie vor Original-Orgelmusik, jedoch vor allem französische Stücke des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Manchmal kommen Fragen danach auf, ob sich Toccaten wie diese überhaupt für den Gottesdienst eignen und vor allem, welchen Wert sie mit einem solch nachlässigen Gebrauch des Pedals und dem äußerst pianistischen Stil als Originalrepertoire für Orgel haben. Ihre Eignung als Unterhaltungsmusik stand jedoch niemals zur Debatte. Sie wäre sicherlich eine naheliegende Wahl für den Vortrag vor Passagieren mit sehr unterschiedlichem Musikgeschmack gewesen.

Heinrich Hofmann (1842-1902)

Organist: Edwin Lemare (1865-1934)

Track 2 Barcarole op. 46 Welte-Rolle 1233 (ein Track von einem Master mit drei Tracks)

Bei der Barcarole handelt es sich um ein musikalisches Genre, das untrennbar mit Schiffsreisen verknüpft war. Sie sollte das sanfte Wogen eines (kleinen?) Boots auf dem (relativ ruhigen?) Wasser musikalisch wiedergeben. Dabei handelt es sich also um eine gänzlich „gewaltfreie" Musikform, im Gegensatz zu Stürmen und Kämpfen.

Lemare war auf die Erstellung und Vorführung von Transkriptionen spezialisiert und vertiefte sich dabei mit Begeisterung in die verschiedensten Genres, vom Standard-Orgelrepertoire über leichtere Unterhaltungsmusik bis hin zu Transkriptionen. Die hier vorgestellte Musikrichtung war zur damaligen Zeit allseits bekannt, unabhängig vom jeweiligen Musikgeschmack. Eine Barcarole von vielen, von denen manche heutzutage noch recht bekannt sind, andere hingegen nicht mehr. Die Originalaufnahme entstand um den 8. März 1913.

Jacques-Nicolas Lemmens (1823-1881)

Organist: Harry Goss-Custard (1871-1964)

Track 3 Große Fantasie in e-Moll („Der Sturm") Welte-Rolle 1121 (Master und Kopie verwendet)

Ein Sturm auf hoher See an Bord der Britannic? Dabei hätte es sich um zweierlei handeln können: Ein Naturereignis oder das Unterhaltungsprogramm. Der musikalische Sturm war eine Form der Programmmusik, ein interessantes, romantisches Genre des 19. Jahrhunderts. In gewisser Weise war er die Fortsetzung einer anderen Form der Programmmusik, der „Schlacht" auf der Orgel der vorangegangenen Jahrhunderte. Diese Art von Sturm stand im Zusammenhang mit der Pastorale und anderen „natürlichen" Formen der Post-Rousseau-Ära und war auch unter anderen Namen bekannt, wie z.B. dem französischen Orage (was ebenfalls eine gewisse Zweideutigkeit besitzt, da es auf die Verwendung eines Effektregisters hinweist, das tiefe Ton-Cluster spielte, um das Geräusch des Donners zu imitieren). Stürme gab es sowohl in Fassungen für das Orchester als auch für die Orgel. Es besteht kaum ein Zweifel daran, dass dieses Stück an Bord gespielt wurde, sofern sich dort eine Orgel befand. Schließlich war es überall dort zu hören, wo weltliche Musik aufgeführt wurde, insbesondere in den Konzertsälen. Einer der Musiker, die Aufnahmen für Welte einspielten, war der Schweizer Organist der Luzerner Hofkirche, Franz Joseph Breitenbach, der dieses Genre sogar in einem Fall an eine spezifisch helvetische Erscheinung anpasste. Mahlers „Alpensinfonie" war eine orchestrale Entsprechung.

Der wohl bekannteste Orgel-Sturm ist dieses sehr beliebte Werk des belgischen Komponisten Jacques-Nicolas [Jaak-Nicolaas] Lemmens. Es beginnt und endet friedlich, wie es Stürmen eigen ist. Mit den Ton-Clustern und Tonleiterläufen treten wir, bildlich gesprochen, in das Auge dieses musikalischen Sturms. Doch auch als er sich bereits wieder gelegt hat, hören wir noch den leisen Nachhall fernen Donnergrollens in einigen letzten Clustern. Dies war ein sehr beliebtes Konzertstück, das z.B. bei den von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts üblichen, aus Großbritannien stammenden, kostenlosen Sonntagnachmittagskonzerten im Rathaus die Massen anzog. Auch heute wird es noch manchmal gespielt. Diese Interpretation Goss-Custards ist bedeutend, da er mitten in diese Tradition hineingeboren wurde. Es existiert außerdem eine erhalten gebliebene, frühe elektroakustische „78er"-Aufnahme dieses Stücks, die er eingespielt hat. Die Aufnahme dieser Rolle entstand jedoch viel früher, um den 20. Februar 1913.

William Wolstenholme (1865-1931)

Organist: William Wolstenholme

Track 4 Barcarolle in C, op. 13 Nr. 6 Welte-Rolle 1577 (Master)

Ein weiteres „wogendes" Stück, das auf interessante Weise den leicht unregelmäßigen Rhythmus des Wassers imitiert, das gegen ein kleineres Boot schlägt und so eine leicht ungleichmäßige Bewegung erzeugt. Der blinde britische Organist und Komponist William Wolstenholme war einer von vielen, die sich an Stücken dieses Genres versuchten. Es handelt sich hierbei um eine seltene Aufnahme, bei der der Komponist selbst ein solches Stück spielt, ein wahres Kleinod seiner Art. Mit der Originalaufnahme wurde am 26. September 1913 begonnen.

Antonín Dvoák (1841-1904)

Track 5 Sinfonie Aus der Neuen Welt - 1. SatzWelte-Rolle 957 (Master)

Die Hauptschiffsrouten waren auch wichtige gewerbliche und kulturelle Verbindungen, ganz zu schweigen von ihrer Bedeutung für familiäre Beziehungen zu Zeiten der Emigration aus Europa. Im 19. Jahrhundert führten viele dieser Routen nach Nordamerika, Südafrika und Australien, da Teile Europas in Armut lebten und insbesondere Nordamerika in zunehmendem Maße als Goldgrube galt. Doch wieder einmal war es der Ozean, der solche Vorhaben erschwerte. Es war stets gefährlich, sich mit Wassermassen dieser Größenordnung anzulegen. Je nachdem, ob man unter Segel oder mit Dampf reiste, dauerte die Überquerung des Atlantiks von Westeuropa nach Südafrika oder zur Ostküste Amerikas eine Woche, manchmal auch länger oder kürzer. Man konnte sich auch für den Indischen Ozean oder den Pazifik entscheiden und nach Australien oder Neuseeland reisen, doch dann konnten aus Wochen schnell Monate werden.

Folglich blieben die USA für die meisten, die ihr Glück oder zumindest ein besseres Leben suchten, das bevorzugte Ziel. Der allgemeinen Auffassung nach boten die USA Hoffnung, wenn man nur erst die Reise bezahlt, angetreten und überlebt hatte. Dvoák schaffte es, dieses Gefühl des Blicks nach Westen über den ruhelosen Ozean voller Hoffnung und Zuversicht in seiner zu Recht so beliebten Sinfonie auszudrücken. Bezeichnenderweise ähnelt die motivische Grundlage eines der Hauptthemen dieses Werks sehr stark der eines Themas aus Wagners „Fliegendem Holländer".

Diese Aufnahme stammt von einer „gezeichneten" oder handgefertigten Rolle. Leider ist der Urheber unbekannt, doch es gibt guten Grund zur Annahme, dass es sich hierbei um ein weiteres, meisterhaftes Werk von Franz Xaver Franz handelt. Die Originalaufnahme wurde um 1922 veröffentlicht, muss jedoch vor 1920 entstanden sein, da Franz in diesem Jahr verstarb.

Tanzmusik, leichte Unterhaltung an Bord und eine Kostprobe der Kinoorgel-Musik

Volkslied

Organist: Paul Mania (1882-1938)

Track 6 Lied der Wolgaschlepper Welte-Rolle 1920 (Master)

Die Bearbeitung wird H. Cady zugeschrieben. Die Original-Rollenaufnahme entstand vermutlich 1923-24.

Joseph Lanner (1801-1843)

Ursprüngliche Einspielung von Pianist Artur Schnabel

Track 7 Alt-Wiener Walzer Welte-Rolle 384 (Master)

Hierbei handelte es ursprünglich um eine Klavieraufnahme. Sie wurde auf eine Orgelrolle übertragen und 1919 als solche wiederveröffentlicht.

Eine Würdigung des Spiels von „Hans Häuser"

E. Malderen

Track 8 Le Tango du Rêve (Tango-Walzer) Welte-Rolle 2067 (Master)

W. Blaufuchs

Track 9 My Isle of Golden Dreams (Walzer)Welte-Rolle 2067 (Master)

Silvio Hein (1879-1928)

Track 10 Pawnee (Two-Step Intermezzo) Welte-Rolle 2067 (Master)

Osman Pérez Freire (1880-1930)

Track 11 Ting-a-Ling Welte-Rolle 2082 (master)

Osman Pérez Freire (1880-1930)

Track 12 Ay-Ay-Ay, Serenata Criolla (Kreolische Serenade) Welte-Rolle 2080 (master)

Bei „Hans Häuser" soll es sich um ein Pseudonym des Pianisten Hans Haas gehandelt haben, der von 1925 an Aufnahmeleiter bei Welte war. Die Belege hierfür sind etwas dürftig und beruhen hauptsächlich auf mündlichen Überlieferungen von Welte-Liebhabern. Die Verwendung von Pseudonymen war jedoch durchaus üblich, vor allem wenn ein Interpret künstlerische Grenzen überschritt, wenn z.B. ein eigentlich berühmter Organist nebenbei in Kinos oder neben seinem üblichen „ernsten" Repertoire auch populäre Stücke spielte. Wie diese fünf Stücke zeigen, war „Häuser" auf diesem speziellen Gebiet der musikalischen Unterhaltung ein überaus versierter Musiker.

Zwei Hymnen der See

Ein Überblick über die Musik an Bord eines großen Passagierdampfers könnte mit den bisherigen Stücken bereits als vollständig erscheinen. Doch etwas fehlt noch. Zur Musik auf See gehörten auch christliche Hymnen, jedoch nicht nur für die Gottesdienste an Bord. Sie dienten auch als eine Art „religiöser Volksmusik". Neben Nearer, my God, to Thee (siehe CD 1 dieser Box) gibt es eine Reihe bekannter britischer Hymnen, die mit der Überquerung der Ozeane assoziiert werden: das Lied der „Sicilian Mariners" (das auf dem europäischen Festland auch als das Weihnachtslied O du fröhliche bekannt ist), O God, our help in Ages past, Eternal Father mit dem Ritornell „for those in peril on the sea" und Abide with me. Die beiden letzteren werden hier vorgestellt, um das „maritime musikalische Bild" zu vervollständigen.

John Bacchus Dykes (1823-1876)

Organist: David Rumsey

Track 13 Eternal Father, Strong to Save (3 Strophen)

Der Text dieser Seefahrer-Hymne, ursprünglich ein Gedicht von William Whiting, das er 1800 für einen Studenten, der gen Nordamerika segeln wollte, schrieb, verweist noch einmal zurück auf die anfängliche Bemerkung, dass die Angst vor Schiffbruch oder Untergang wichtiger Bestandteil und ständiger Begleiter auf jeder Seereise war. Jede Strophe endet mit den Worten „Oh, hear us when we cry to Thee,/For those in peril on the sea" (Hör uns, wenn wir zu dir flehen für die auf See und in Gefahr). Furcht verspürten auch die Daheimgebliebenen, Familie, Freunde, Ehefrauen und Kinder. Die Melodie wurde von J.B. Dykes komponiert und stammt aus dem Jahr 1861. Er nannte sie Melita nach der Insel (heute Malta genannt), die der Apostel Paulus erreichte, nachdem sein Schiff gesunken war.

William Henry Monk (1823-1889)

Organist: Goss-Custard (1871-1964)

Track 14 Abide with me (4 Strophen) Welte-Rolle1154 (Master)

Es ist verblüffend, dass ungefähr 25 deutsche und englische Kirchenlieder in der Seewener Rollensammlung erhalten geblieben sind. In unserer heutigen säkularen Welt mag es seltsam erscheinen, dass auch die Berliner Chor- und britische Hymnentradition von um 1912 für die Nachwelt aufgezeichnet wurden. Doch die Symbolkraft der Hymnik, die Tradition des Hymnengesangs in der Gemeinde, die Absatzmöglichkeiten und rein praktische Überlegungen brachten Welte dazu, diese wertvolle musikalische Nische in ihren Katalog aufzunehmen. Goss-Custard erinnert uns daran, oder offenbart uns vielmehr, wie diese vier Strophen in England vor dem Ersten Weltkrieg gespielt worden sein könnten. Er begann mit den Originalaufnahmen am 20. Februar 1913. Der Text von Abide with me wurde 1847 von Henry F. Lyte geschrieben, die Musik (die Melodie namens Eventide) 1861 von W.H. Monk.

David Rumsey